Geliebt,verlassen und wieder auferstanden:
Die Schöne an der Oder
Von Ulrike Keding
„Das Parlament“, 19.10.2015
Das Kronjuwel von Wroclaw ist der Rynek. Das Globetrotterherz schlägt höher auf dem Marktplatz, der in Europa seinesgleichen sucht. Mitten in barocker Häuserpracht pulsiert das Leben, herrscht mediterrane Atmosphäre, flanieren Scharen von Menschen in abendlicher Sonne. Gaukler und Komödianten geben ihr Bestes. Ein Straßenkünstler pustet Seifenblasen, so groß wie Wolken. Atemlos rennen Kinder ihnen begeistert hinterher. Eine Violinistin spielt auf ihrer Geige. Ein Hauch von Melancholie. Der Klang löst Erinnerungen an die düstere Vergangenheit Breslaus aus, das bis 1945 deutsch war und nach dem Anschluss an Polen in Wroclaw umgetauft wurde.
Der Weltenbummler vermag sich bei all der Lebensfreude und dem fröhlichen Getümmel ringsum kaum mehr die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und der zu fast 75 Prozent zerstörten Stadt vorzustellen. Wroclaw ist schon lange wieder auferstanden und erstrahlt besonders seit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union im Jahr 2004 in höchstem Glanz, als erhebliche finanzielle Mittel die hervorragende Renovierung der farbigen Prachtbauten erst möglich machten.
Die Europäische Union hat nun Breslau zur Kulturhauptstadt 2016 gekürt und rückt damit die polnische Großstadt mit ihren rund 670.000 Einwohnern ins internationale Rampenlicht. Damit richtet sich die Aufmerksamkeit auch auf die deutsche Minderheit, die noch in Breslau und Niederschlesien lebt. Über achteinhalb Millionen Deutsche sind nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben worden. Die heute so beschauliche Dampferfahrt über die Oder lässt kaum ahnen, dass hier so manches Herz gebrochen ist, weil die Schlesier „ihr“ Breslau, die „Schöne an der Oder“ verlassen mussten. Breslau-Wroclaw, das ist Melodie in Dur und Moll, seine strahlende Schönheit heute und seine tragische Geschichte damals, das macht die reizvolle Spannung dieser Stadt aus.
Nur einige deutsche Facharbeiter durften 1945 bleiben. Sie sollten Polen beim Aufbau helfen. Darunter war auch der Vater von Renata Zajaswkowska, die damals vierzehn war. Die heute 84jährige Zeitzeugin erinnert sich: „Der Krieg war verloren. Wir waren von allen verlassen. Es hat sich niemand um uns gekümmert. Wir waren zu Hause und von einem auf den anderen Tag in einem fremden Land. Es kamen sofort die polnischen Flüchtlinge aus Lemberg, obwohl es noch gar nicht beschlossen war, dass der deutsche Teil Polen zugesprochen wird.“
Mit der Straßenbahn fahren wir zur Deutschen Sozial-Kulturellen Gesellschaft. Im Büro von Renate Zajaskowksa fällt als Erstes ihre Ehrenfotogalerie mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundespräsident Joachim Gauck auf. Die Erste Vorsitzende hat die Staatsoberhäupter in der Villa der deutschen Minderheit empfangen. Diese ist die „Heimat“ der Schlesier. Mit Gartenfesten und schlesischer Kultur auf der hauseigenen Bühne werden die Traditionen erhalten. Die Gemeinschaft sei für die wenigen Deutschen wichtig, die in Polen verblieben sind, meint Renate Zajaskowska: „Ich habe einen Polen geheiratet. Es war ein schönes – aber schweres Leben. Wir wurden nirgends eingeladen, aber wir kamen gut miteinander zurecht.“
Wroclaw hat den Wettbewerb um den Titel „Kulturhauptstadt“ gewonnen, sogar gegen Warschau und Danzig. Das hat seine Gründe. Wer im Rathaus im „Schweidnitzer Keller“ einkehrt, liest die Namen aller großen Dichter und Denker in die Wände eingeritzt, die sich in Breslau bei einem Glas Wein ein Stelldichein gaben: Von Chopin bis Goethe oder Gerhard Hauptmann, dessen berühmtes Drama „Die Weber“ in Niederschlesien angesiedelt ist. Jerzy Grotowski, der polnische Avantgarde-Theatermann, inszenierte in Wroclaw seine ersten „Happenings“. Roman Polanski begann hier seine Filmkarriere. Er wurde mit drei Oscars für “Der Pianist“ ausgezeichnet: das Schicksal des polnisch-jüdischen Klavierspielers Wladyslaw Spielmann, der das Warschauer Ghetto überlebte.
„Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir“. Dieser Psalm auf einer Gedenktafel an der Synagoge „Zum Weißen Storch“ erinnert daran, dass die Breslauer Juden 1941 bis 44 von diesem Platz durch die Nationalsozialisten in die Konzentrations-lager deportiert wurden.
Der „Storch“ schimmert in hellem crémeweißen Ton. Früher gehörten 23.000 Mitglieder der drittgrößten Jüdischen Gemeinde in Deutschland an. Heute suchen rund 300 Gläubige den „Weißen Storch“ auf. Die norwegisch-jüdische Schauspielerin Bente Kahan hat die Sanierung der Synagoge mit ihrer Stiftung entscheidend vorangetrieben. Sie hat im „Storch“ auch ein Kulturzentrum gegründet. Die Schauspielerin tritt hier ab und zu selbst auf. Auch Klezmer-Musiker geben Konzerte. Um die Ecke entdeckt der Wanderer von Breslau die Jüdische Bibliothek mit Jugendstil-Café, wo man die besten koscheren Torten kaufen kann. Niemand sollte sich das kleine Jüdische Viertel entgehen lassen, dass etwas Besonderes ist.
Auf der Dominsel stehen über zwanzig Polen stehen vorm Beichtstuhl Schlange. Die Schar ist bunt gemischt: Junge Mädchen in Hot Pants, Mutter mit Kinderwagen, in der Mitte eine Nonne. Die Klappen des geheimnisvoll abgeschotteten holzgeschnitzten Throns, vor dem die Sünder knien werden, sind nur einen Spalt geöffnet. Der Priester vergibt Wartezettel. Der Glaube ist aus dem polnischen Leben nicht wegzudenken. Die Polen sind zu 95 Prozent überzeugte Katholiken und zu 50 Prozent aktiv praktizierend. In Breslau, das berühmt ist für seine siebzehn gotischen Kirchen, pilgern Religiöse und Touristen gleichzeitig in die erlesenen Gotteshäuser.
Die Bar Barbara ist lichtdurchflutet und trendig gestaltet. Die Info-Zentrale der Kulturhauptstadt, nur drei Minuten zu Fuß vom Rynek, soll ansprechen, und zwar in modernem und kreativem Design. Hier kann der Besucher bei einem Cappuccino die Programme durchstöbern und in einer kleinen, aber feinen Ausstellung die verrücktesten Stühle von Goldthron bis Stachelsitz bestaunen. Auch eine kleine Bühne für Lesungen und Künstlergespräche ist in „Barbara“ integriert.
Das Festival Impart, das mit 57 Mitarbeitern die Idee der europäischen Kulturhauptstadt realisieren soll, setzt 2016 nicht nur auf eine Fülle von über 500 Veranstaltungen aller Künste, sondern Breslau soll selbst zur öffentlichen Bühne werden und seine Bewohner die Akteure. Der Regisseur Chris Baldwin ist für die Performance „Flow“ engagiert, die sich im Sommer 2016 auf 130 Oderbrücken und in der Innenstadt abspielen wird.
Baldwins „Open-Air-Ereignis“ soll die Entstehung, Zerstörung und den Wiederaufbau einer Metropole erzählen, die seit 70 Jahren an einer neuen Identität arbeitet, als das deutsche Breslau zum polnischen Wroclaw wurde: „Mein Ziel ist der Dialog im Herzen einer kulturell vielfältigen Stadt, einem Schmelztiegel der polnischen, ukrainischen, israelischen und deutschen Kultur.“
Der Wanderer von Breslau verfällt der Stadt nach und nach. Abends beendet er seinen Tag wieder am Rynek. Hier und im Umkreis von einem halben Quadratkilometer spielt sich das Nachtleben ab. Nach einer Portion „Bigos“ auf dem Marktplatz, dem typischen polnischen Gericht aus geschmortem Schweinefleisch mit Sauerkraut, oder einem halbgaren Thunfischsteak in einem der Nouvel Cuisine Restaurants in den günstigeren Seitengassen, hat er die Wahl zwischen Oper, Avantgarde Theater im Grotowski-Studio oder einem Chopin-Klavierkonzert. Danach kehrt er in dem Jazz Club Vertigo ein und erlebt bei dem einen oder anderen Drink namenhafte polnische Jazzmusiker auf der Bühne.
Nachts steuert der schlaftrunkene Breslau-Liebhaber sein „Art Hotel“ an. Der gute Chopin-Wodka ist ihm zu Kopf gestiegen. Während er über den nächtlichen Rynek wandelt, die geschwungenen Barockgiebel rings um ihn magisch leuchten, der große Springbrunnen schillernd vor sich hinplätschert, hört er die Melodie der Geigerin von ferne und fragt sich, ob das Wirklichkeit – oder alles nur ein Traum von seiner „Schönen an der Oder“ ist.